Neue Übersetzung zur Entstehungsgeschichte der Komposition: „TOD DES GOUVERNEURS” (The Governor’s Death / A kormányzó halála)

Posted by Rudolf Kraus

  Info zur Komposition der Tanzoper: Tod des Gouverneurs
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  Kodolányi Gyula

 

 

Tanzoper: Tod des Gouverneurs

Auszüge aus den Notizen, die János Kodolányi im Jahr 1997 über die Abläufe einesTotalen Theaters“ geschrieben hat:

NOTIZEN ZUM „TOD DES GOUVERNEURS”

Mein Gedichttext ist kein Libretto. Dieser Zyklus trägt in sich die Erwartungen im Jahr 1989, dieses vergehenden, glänzenden historischen Moments, parallel mit dem noch aktiven Erlebnis der Diktatur. Die Entstehungsgeschichte des totalen Theaterwerkes kann dem Leser den Tod des Gouverneurs näher bringen.

Die Idee des „Todes des Gouverneur“ begann sich in der Fantasie meines Freundes, des Komponisten György Szabados im Jahr 1986 zu formen und zu entfalten. Szabados wurde auf die in den Überlieferungen des ungarischen Volksschauspiels fragmentarisch auftauchenden, vergessenen mythischen Elemente aufmerksam und in diesen erkannte er die Verwandtschaft mit den Motiven des japanischen und chinesischen Theaters. Diese veranlassten ihn ein solches zeitgenössisches Spiel zu schaffen, worin die Betrachtungsweise und der Stil des Kabuki-Theaters durch unsere Probleme, durch unsere Empfindsamkeit durchschimmern.

Szabados dachte an ein Spiel, in dem Musik, Rezitation und Bewegung die gleiche Rolle einnehmen — und das ganz anders ist als alles, was wir als Oper oder Ballett kennen. In gewisser Hinsicht stilisierter, rauer. Nicht anekdotisch und nicht naturalistisch.

Szabados befreundete sich damals, bei einem Besuch in der Region Bácska mit József Nagy, alias Josef Nadj, dem Choreographen-Tänzer des Theaters Jel, der sich gerade für seine erste große Produktion vorbereitet hatte: „Die Peking Ente”. Dadurch wurde er zu einem der führenden Persönlichkeiten des modernen Tanztheaters in Paris. Als er „Die Peking Ente” und die Arbeit von Nadj sah, erkannte Szabados, dass das, was er in seiner Fantasie nur als Spiel gestaltet hatte, verwirklicht werden konnte, weil Regisseur und Theater da waren, die etwas Ähnliches machen wollten.

Ich schloss mich der Erarbeitung des Spiels im Frühling 1989 an. Szabados erwähnte mir gegenüber bereits 1988 diese Zusammenarbeit und dass er einen Texter suche, aber damals ergriff ich noch nicht die Gelegenheit. Ich hatte noch nie ein Bühnenstück geschrieben und meine Vorstellungen über Drama waren von anderer Art. Zur Zeit meiner beginnenden Mitwirkung bestimmten die Hauptzüge der Handlung und die Tonart des Werkes den Bewegungsraum bereits . Von nun an entstanden die drei Fäden: Tanz, Musik und Gedicht auf separaten Wegen, aber gleichzeitig und auf einander einwirkend. Nadj brachte die neuen Videoaufnahmen von den Proben in Paris mit. Wir haben diese mit ihm, mit den Musikern und wir zwei dann mit Szabados durchdiskutiert. Ich lieferte Szabados und Nadj die neuen Gedichte für unsere endlosen aber sehr sachgerechten Diskussionen in Nagymaros. Szabados bewertete die Arbeit von uns beiden, indem er uns die Dynamik der Musik und die Wellenbewegung des Dramas vor Augen hielt.

Da war kein fertiges Drama zum Vertonen und dann zum Choreographieren. Da war keine fertige Geschichte, die ein Libretto nötig hatte. Wir haben zusammen etwas geschaffen, Schritt für Schritt, mit Sprüngen und Abweichungen, im freien Raum der großen, imaginären Form: es war außerordentlich schwierig, aber auch befreiend.

Wir drei fügten dem „Tod des Gouverneurs” verschiedene Dimensionen hinzu. Szabados vertrat die Meinung, wie ich auch, dass die Bewegung eher, früher und tiefer wurzelt als Musik und Dichtkunst. Nadj stellte sich die Geschichte vor, die die Tanzbühne in der Sprache der Bewegung erzählen kann, und dazu war eine neue Musik nötig, die nebst ihrer Eigengesetzlichkeit dieses Bühnengeschehen volle Aufmerksamkeit widmete. Und im Stadium der Reifung musste sich der Tanz wieder den Wegweisern der sich entfaltenden Musik anpassen, die schon in meinem Text zum Rezitieren beinhaltet waren. Der bloße Text beeinflusste jedoch die Tonart, die Formen, den Umfang der Musik.

Durch meinen Text trat der Erzähler selbst ins Drama — es war Tamás Kobzos Kiss bei der Aufführung — weil sich der in den Gedichten ausgedrückte Aspekt im „Tod des Gouverneurs” selbst bewegt. Er identifiziert sich zu Beginn völlig mit den Lügen, die den Tyrannen umgeben, und diese Heuchelei wird durch Zwischenfälle und Stolpern enthüllt. Diese Textironie bleibt dem Hörer verborgen und die falschen Metaphern und Fehler machen für das empfindliche Gehör die Selbstverherrlichung der jeweiligen Diktaturen so tröstlich lächerlich.

Im Laufe des Spiels wird der Erzähler mit der Wirklichkeit konfrontiert, und erlebt eine fast so kraftvolle Erleuchtung, wie der Narr. Deshalb kann er die Schlussworte der Geschichte aufsagen, und sogar eine Art Zukunftsvision aufleuchten lassen, die sich auf das Licht reimt, das die Hausheilige am Ende des Spiels aufzeigt.

Zum Schluss müssen wir von der Stille sprechen, vom Theater der Stille.
1989 hatten wir das Gefühl, dass nun die Zeit für die übertreibende Pantomime der Lüge und die extremen, sich in ihren Gegensatz verkehrenden Emotionen gekommen war. Der Gouverneur begießt die mit Gewalt zusammengezimmerte soziale öffentliche Verständigung mit der Soße der lügenhaften Selbstbefriedigung: in dieser Welt herrschen also die ,,doppelte Sprache”, das Beinstellen und das geheime Spiel in jeder menschlichen Beziehung. Nur zwei — äußerlich tragikomische, innerlich jedoch umso stärkere menschliche Stimmen ertönen aus dem Chor der Heuchelei: die Liebe des Narren (und Hofdichters) zur Hausheiligen, und das Mitleid der Hausheiligen dem Gouverneur gegenüber. Es stellt sich heraus: wenn jemand in dieser Welt ohne eigenes Zutun gut oder „anders” sein will, — der „schön und frei und mild” mit seinen erbärmlichen Mitteln sein will — der verursacht früher oder später Skandal und Rebellion. Die Macht gerät innerlich endgültig dann ins Schwanken, wenn sie versucht, diesen stillen Widerstand brutal zu unterdrücken.

Haben wir uns geirrt? Im November 1989, an jenem Tag, als die Truppe von Nadj und MAKUZ — das Ungarische Königliche Hoforchester — unter der Leitung von Szabados in Brest in Frankreich die Uraufführung hatten, fiel die Berliner Mauer.