Horváth Tamás Interview mit György Szabados aus dem Frühsommer 1984 liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor

Posted by Rudolf Kraus

Alles wie gehabt?

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Viele Musikfans halten György Szabados für den „einsamen Wolf“ unter den ungarischen Jazzmusikern, als der „in innerem Exil lebende König“ der progressiven Avantgarde, der freien Musik. Ich würde diese Behauptung bestreiten. In den vergangenen 20-22 Jahren war Szabados nur selten einsam; junge Musiker, die sich nach einer wahren schöpferischen Arbeit gesehnt haben, haben ihn oft aufgesucht und gesellten sich ihm bei. Außerdem war seiner Natur nichts weiter entfernt, als mit scharfer Zunge zu argumentieren oder sich über die Beute zu prügeln. Inneres Exil? Soziologische Untersuchungen des Publikums der letzten Jahre zeigen, dass er einer der drei beliebtesten Jazzmusiker ist – wenn nicht sogar der beliebteste. Das Publikum hat ihn nie verbannt, höchstens wurde er für kurze Zeit außerhalb „offizieller“ Gehege verbannt – dank manchen ignoranten oder neidischen Musikerkollegen, der verkrampften Musikkritik und interessenlosen Kulturpolitikern. Aber das hat ihn nicht entmutigt. Der jetzt 45jährige Komponist, Pianist und Leiter verschiedener Musikformationen ist eine außerordentliche Persönlichkeit des Musiklebens in Ungarn. Für die Jazzanhänger ist er manchmal zu abstrakt, viel zu exzentrisch – und die Koryphäen der klassischen Musik behaupten, dass seine Musik in eine andere – wer weiß was für – Kategorie gehört. Sicher ist, dass diese Musik in keine verstaubte Schachtel passt, weil sie eine völlig originelle Synthese ist: eine unvergleichlich geglückte Legierung der zeitgenössischen Musik, des heutigen Jazz und der Volksmusik; tatsächlich ist sie eine moderne zeitgenössische Musik, nur steht im Mittelpunkt seiner über allen Gattungen stehenden musikalischen Metasprache nicht die spekulative, sondern die auf natürlicher Musikalität basierende Improvisation und eine frei gehandhabte, schwebende Rhythmik; gedanklich wendet er sich ebenfalls in Richtung Totalität, bereit zur Aufnahme verschiedenster Kulturen.  Ihrer Natur nach jedoch, ist sie charakteristisch ungarisch: ihre Rhythmik wird auf das parlando rubato des Volksgesang, des „Singsang“ Stils, sowie auf die Prosodie der ungarischen Sprache und der lebenden gesprochenen Sprache aufgebaut und auch gefühlsmäßig ist sie mit der Volksmusik verbunden.

Ungewöhnlich sind auch die ästhetische Vielfältigkeit und dabei aber auch die schöpferische Kontinuität, die die Laufbahn von Szabados auszeichnet. Bereits im Jahr 1963 war er unter den Ersten in Europa, die mit dem Konzept offener Musik experimentierten, aber die Sympathie der ungarischen Berufskollegen und offiziellen Fachleute konnte er sich nicht einmal mit dem Großen Preis des Jazzfestivals von San Sebastian im Jahr 1972 erwerben. Lange Jahre lebte er in völliger Ausklammerung und arbeitete mit wechselnden Partnern. Während zwanzig Jahren sind nur zwei LPs von ihm erschienen (1975: Az esküvő, [Die Hochzeit] und 1983: Adyton) und zwischenzeitlich sind solch großartige Werke entstanden, wie der Csíki verbunk (Verbunkos aus Csík), die Katonazene (Soldatenmusik) oder die berühmteste Produktion des von ihm geleiteten Kortárs Zenei Műhely (Zeitgenössischer Musik Workshop), Csiga (Schnecke), nicht zu sprechen von seinem Konzert in Győr im Jahr 1983* mit dem weltberühmten amerikanischen Saxophonisten Anthony Braxton, ohne dass diese Aufgezeichnet wurden. Ein verbannter Puszta-König wäre bei so vielen Hürden schon längst sauer geworden, aber György Szabados glaubte und glaubt hartnäckig an sein eigenes musikalisches Konzept, und die Zeit scheint ihn zu rechtfertigen. Seine schöpferische Haltung ist nicht durch Beleidigung gekennzeichnet, sondern von einer Sisyphosschen Attitüde bestimmt, und zwar im Sinne von Camus, d.h., wir müssen ihn uns als glücklich vorstellen, weil er von der Art eines Menschen ist, dessen „strebender Kampf in die Höhe reicht, um das menschliche Herz zu füllen“. In letzter Zeit scheint die Eiskugel um ihn herum zu tauen: letztes Jahr wurde er mit dem Liszt-Preis ausgezeichnet und endlich ist seine zweite LP, Adyton auch erschienen.

Wie ist seitdem Ihr Wohlbefinden? Hat es sich etwas geändert?

Wie wenn wir in einem auftauenden, Hoffnung schöpfenden Kurs wären, das Leben hier in Ungarn ist etwas ermutigender geworden, auch wenn die Welttendenzen nicht die besten sind. Für meine Person bedeutet es so viel, dass ich arbeiten, komponieren, Konzerte geben, sprechen konnte, und was das Wichtigste ist: ich konnte anderen Freude bereiten – was an und für sich schon ein Zeichen der Veränderung ist. Der Liszt-Preis ist auf jeden Fall eine große Freude, denn zum einen ist er das Ergebnis der geleisteten Arbeit, andererseits meine ich, dass die Auszeichnung nicht so sehr für mich gilt, sondern eher der musikalischen Tendenz, worin ich mich bewege, die ich vertrete.

Was reizt Sie an improvisativer-intuitiver Musik, sei es Jazz oder Volksmusik? Letztendlich ist das Spielen von notierten Musikwerken auch eine Art Improvisierung: die gebundene Form muss jedes Mal neu mit Inhalt gefüllt werden.

Es ist war, dass das Spielen eines notierten Musikwerkes eine fantastische Aufgabe ist, aber die Improvisation ist ein kreativer Zustand, indem die Großartigkeit des Moments immer andere Dimensionen eröffnet, und mal breitere, vollständigere Wahrheiten aufweist, die nur dort auf der Bühne geboren werden und sonst nicht mehr zum Vorschein kommen können. Aber ich muss sofort hinzufügen: die Konfrontation zwischen der komponierten und improvisativen Musik ist ein gekünsteltes Problem. Die zwei Methoden ergänzen und überlappen sich, helfen einander gegenseitig, verschmelzen in der heutigen, zeitgenössischen Musik, zumindest in den herausragenden Werken. Das Wesentliche ist jedoch, wie komplex und wahr die Aussage des Komponisten ist und ob er das mit einem ästhetischen Anspruch macht, der dieser Behauptung würdig ist. Der Glaube, dass sowohl die ästhetische als auch die ethische Wahrheit nur mit einem Zustrom kluger, künstlich aufgeblähter kompositorischer Argumente und Methoden akzeptiert werden kann ist eine Fehleinschätzung.  

Warum haben Sie das parlando rubato als Ausgangspunkt für Ihren Rhythmus gewählt?

Wenn jemand einen ungarischen Volkssänger hört, der ein Klagelied oder Wiegenlied oder Liebeslied singt, kann er bemerken, wie der Sänger das Lied biegt und „abwärts gleitet“, so, wie es die momentanen Gefühle erfordern. Das Nacheinander der Töne hat eine sehr intime, sehr tugendhaft bewahrte Rhythmik, die aufgrund dieser Intimität reich und zutiefst menschlich ist. Das ist ein verführerisches und gleichzeitig humanes Leitprinzip dafür, dass ich verschiedene afrikanische, asiatische, osteuropäische Rhythmen miteinander in Verbindung bringe, und zwar aufgrund von traditionellen, uralten, ungarischen Grundlagen. Parlando-rubato garantiert, dass eine seelisch aufrichtige, wahre Musik ertönt, weil es die kalten, gekünstelten, spitzfindigen Strukturen nicht toleriert.

Sie haben für das diesjährige Frühlingsfestival ein Werk komponiert: die Zeremonienmusik (Szertartászene). Das ist das Ritual eines imaginären, in der Tiefe der Seele erlebten Fests. Wenn ich es bedenke, ihre erste Platte, Az esküvő, aber sogar Adyton stellen eine Art höhere Gemeinschafts-Zeremoniemusik dar. Glauben Sie dermaßen in der Kraft der Riten?

Ich ehre diejenigen, die fähig sind, ihr Gehirn in dieser computerisiert-digitalen Welt so gezielt zu schärfen, dass sie auf Feier und Rituale abschätzig blicken, aber es ist meine Überzeugung, dass man mit einer solchen Mentalität nicht sein eigener Herr sein kann, seinen Willen über Dinge und Technologien nicht durchsetzen kann. Darum muss er in sich auch das Naturwesen pflegen, das in ihm seit seiner Geburt als inhärente Mitgift anwesend ist, nur nicht entfaltet. Es verdirbt immer mehr, d.h., noch nie gab es ein derartiges Bedürfnis nach menschlicher Kultur. Wir müssen uns jeden Tag entscheiden, was wir für richtig oder falsch halten, was für intellektuell oder borniert, was für Egoismus oder Freigiebigkeit. Wenn es das Ritual gibt – und ich glaube, dass es existiert! – dann betrifft es nicht die Mystifizierung der Computer, sondern das Ritual unserer Verhaltensformen zum Wohle der Gemeinschaft. Dieser Ritus manifestiert sich manchmal nur in unserer Vorstellungskraft, zu einer imaginären Zeit oder während einer imaginären Zeremonie, aber in den Tiefen unserer Seele sehnen wir uns danach und bringen ihm Opfer dar.

Die Zeremonienmusik ist voll von alten fernöstlichen Motiven: archaische, chinesische, japanische, tibetische. Warum haben Sie in Zeit und Raum soweit zurückgegriffen?

In der Natur erscheint alles in dualer Form: Mann-Frau, niedrig-hoch, positiv-negativ… Es gibt die Außenwelt und mich, also alles, was mein Denken verdauen kann, muss ich akzeptieren. Einer der wichtigsten Bezüge: Ost und West – diese zwei erprobten Felsen in Weltanschauung und Mentalität mit all ihren Erscheinungsformen. Wir sind zwischen den beiden, aber unsere älteren Musiktraditionen, unsere Volkslieder stammen aus dem Osten, nicht im Sinne von barbarisch, sondern im Sinne von einer hohen Ordnung. Erst jetzt beginnen sich langsam die Geheimnisse der orientalischen Kultur zu enthüllen, dessen scheinbare Einfachheit viel umfangreicher und komplexer ist, als wir es uns vorgestellt haben, und wie wir lange Zeit abschätzend darüber gesprochen haben. Nachdem wir Ungarn ein Ohr im Osten haben, können wir in dieser Gegend glaubwürdiger suchen, als andere. Hinter den ungarischen Klageliedern höre ich heute noch den Gesang der alten Männer in Nordjapan, die Mongolen, die zweistimmig singen, die kasachischen Koboz-Spieler und diese Aufzählung könnte ich noch lange fortsetzen.

Nach 15 Jahren kommt wieder der Gesang in Ihrer Musik vor…

Der Gesang ist für mich wieder wichtig geworden. Ich meine, wir wissen nichts über Klänge, Musik, die Welt zusammenhaltende Harmonie, wenn wir die Vibration des Gesanges, in unserem Körper diese musikalische Mathematik der Qualität nicht kennen, nicht erfahren.

In Ihrem Artikel ‚Das Elend des Jazz‘ haben Sie 1979 darüber geschrieben, dass das ungarische Jazz-Leben jahrzehntelang nicht ermutigend war, weil in Ungarn die Welt des Jazz immer noch von Willkür und Verletzlichkeit dominiert wird… Darum sieht es so aus, dass alles beim Alten bleibt: verschollene Musiker, unausgearbeitete Stile, tolerierte, aber blockierte musikalische Vegetation.“ Sehen Sie das immer noch so?

Im Wesentlichen gibt es keine Änderung – allenfalls in den Nuancen, was die Situation – scheinbar – mildert. Auf jeden Fall ist es positiv, dass es immer schwieriger wird, den Menschen vom Guten abzuraten.

Horváth Tamás

 

* Das Konzert fand am 19. März 1982 statt

(Übersetzung: Marianne Tharan, Januar 2020)

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Ergänzende Informationen:

  Alles wie gehabt ? (Download) 

audio info liner_notes GSPA1975LPF   1974: Az esküvő (The Wedding)

audio info liner_notes GSPA1974F   1964; 1974; 1981; 1982: Hungarian Jazz History 8 – György Szabados

audio info liner_notes GSP1983LPF-2   1982: Szabados – Adyton

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   1977-79: Szabados György & Kortárs Zenei Műhely

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audio info    1982: Szabados & Braxton Győrben 1982.

 Liszt Ferenc award (15. March 1983)

 1979: A jazz [dzsessz] nyomorüsága